Kampf für soziale Rechte auch in Kriegszeiten!

Die gewerkschaftliche Ukrainekonferenz war ein voller Erfolg

11.06.2024 | Am 8. Juni 2024 trafen sich 70 Teilnehmende im IG Metall-Haus zur Veranstaltung „Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine“. Gewerkschafter_innen und Aktivist_innen aus der Ukraine waren extra angereist. Die Veranstaltung wurde vom Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin und von der Initiative „Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften“ organisiert. Sie war ein voller Erfolg.

70 Teilnehmende diskutierten und informierten sich am 8. Juni im IG Metall-Haus - Foto: J. Mehnert

Schwerpunkte der Veranstaltung waren die Themen Abbau von sozialen Rechten, insbesondere Arbeitsrechte, und Entschuldung. Darüber hinaus ging es darum, konkrete Projekte für eine Zusammenarbeit von Aktiven aus Deutschland und der Ukraine zu entwickeln. Die Konzeption der Veranstaltung wurde vielfach gelobt, die Zahl der Teilnehmenden hätte noch größer sein können, wenn nicht zeitgleich die große Anti-AfD-Demonstration vor der Europawahl stattgefunden hätte, zu der zeitlich nach der konkreten Planung der Ukraineveranstaltung aufgerufen wurde.

Eingeladen waren u.a. die Partner, die eine Delegation der Initiative "Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften" im Oktober 2023 in Kiew und Krywyj Rih getroffen hatte. Dazu gehörten Gewerkschafter:innen von ArcelorMittal, dem größten Stahlwerk in der Ukraine, und die Initiative BeLikeNina. Darüber hinaus freuten wir uns über die Teilnahme der Studierendengewerkschaft Prijama Dija aus Lviv.

Die Veranstaltung fand anlässlich der Ukraine Recovery Conference 2024 statt, die von der Bundesregierung und der EU-Kommission am 11. und 12. Juni in Berlin organisiert wurde. Weder diese offizielle Regierungskonferenz noch ihr Begleitprogramm kümmerten sich in irgendeiner Weise um die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung, die die Last des Krieges zu tragen hat. Im Gegenteil: Die Regierungskonferenz sollte die Interessen des internationalen Kapitals vertreten und den Sozialabbau in der Ukraine vorantreiben. Zusätzlich zu den Kriegsfolgen wird die Bevölkerung dadurch mit dem Abbau von Rechten, mit Lohn- und Arbeitsplatzunsicherheit und mit Privatisierung konfrontiert. Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine waren nicht zur offiziellen Regierungskonferenz zugelassen.

Die Veranstaltung am 8. Juni verfolgte im Gegensatz dazu gerade das Ziel, die sozialen Rechte zu verteidigen, dazu Vertreter:innen von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine zu Wort kommen zu lassen und sich für die Forderung nach Schuldenstreichung für die Ukraine stark zu machen, ohne die an einen selbstbestimmten Wiederaufbau nicht zu denken ist.

Ergebnisse

Artjom Tidwa von Sozialnyj Rukh erläuterte, wie die sozialen Rechte in den letzten Jahren systematisch in der Ukraine abgebaut wurden, was die Lage der Menschen zusätzlich zum Kriegsgeschehen weiter verschlechtert. Oksana Sloboda und Julia Lipitsch-Kotschirka, zwei der fünf angereisten Vertreter:innen der jungen Initiative und Gewerkschaft des Krankenhauspersonals BeLikeNina berichteten von den ermutigenden Erfahrungen beim Aufbau ihrer zwischenzeitlich stark verankerten und kämpferischen Organisation. Natalja Suslo, die Vorsitzende der Gewerkschaft DUET bei ArcelorMittal in Krywyj Rih, befasste sich mit dem Arbeitskräftemangel und den fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten für junge Menschen, während Serhii Husko von der dem Unternehmen angegliederten Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technik über konkrete Planungen im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Ende Juli 2023 durch einen russischen Angriff zerstörten Ausbildungszentrums sprach.

Kristina Rehbein von Erlassjahr gab einen Überblick über die Verschuldung der Ukraine vor und während des Krieges und betonte die Dringlichkeit eines Schuldenschnitts. Katja Grizewa von Prijama Dija sprach über die Mehrfachbelastung der Studierenden, die gleichzeitig arbeiten müssen, um leben zu können; die Privatisierung von universitären Einrichtungen wie Schlafsälen schafft zunehmend einen sozialen Ausleseprozess an den Universitäten zugunsten der Studierenden aus reichen Familien und sie schilderte den kämpferischen Einsatz für die Aufrechterhaltung der universitären Bildungsstätten.

Im zweiten Teil der Veranstaltung wurden die fünf Themenfelder: soziale Rechte, Entschuldung, Gewerkschaftsaufbau im Krankenhauswesen, Wiederaufbau eines Ausbildungszentrums in Kryvyi Rih und Hochschulkämpfe in Arbeitsgruppen bearbeitet. Jedes Themenfeld wurde mit Partner:innen aus der Ukraine und aus Deutschland  besetzt, um sich gegenseitig in Kenntnis zu setzen über die jeweilige Situation und Möglichkeiten der praktischen Zusammenarbeit zu erkunden. In den Bereichen Entschuldung und soziale Rechte ist dies leider nicht gelungen; im ersten Fall fehlt der ukrainische Partner, im zweiten Fall der deutsche. Dennoch konnten auch hier Kontakte für einen weiteren Austausch hergestellt und Verabredungen getroffen werden. Vereinbart wurde u.a.

* Zum Thema Abbau sozialer Rechte soll es eine Online-Veranstaltung mit Arbeitsrechtlern von beiden Seiten geben. Hier spielt auch das Thema EU herein, da es nützlich ist, einen Überblick über den sozialen Gehalt der Verträge von Maastricht und Lissabon und die Entwicklung der Sozialgesetzgebung in der EU seither zu geben. Die Ukraine wünscht ja die Aufnahme in die EU und muss dafür ihr Vertragswerk und ihre Direktiven unterschreiben. Da ist es wichtig zu wissen, was auf sie zukommt;

*  die angereisten Kolleg:innen von Arcelor Mittal und der angegliederten Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technik aus Krywyj Rih konnten mit einem Betriebsrat von AM Bremen und Jugendauszubildendenvertretern von AM Eisenhüttenstadt die Möglichkeiten besprechen, die Gewerkschaften am Prozess des Wiederaufbaus eines neuen Ausbildungszentrum zu beteiligen; auch hier soll ein Online-Austausch über die Entwicklung eines gemeinsamen Projekts organisiert werden;

*die Krankenschwestern konnten sich mit der Krankenhausbewegung in Berlin, vertreten durch Gisela Neunhöffer von Ver.di, über den Aufbau und die Stärkung von selbstorganisierten Strukturen und die Wirksamkeit unterschiedlicher Formen von Arbeitskämpfen austauschen. Sie planen gemeinsam mit Ver.di Bildungsveranstaltungen über Organizingprozesse; sie bekamen zudem die Möglichkeit, zwei Tage später an einer Streikversammlung von Ver.di teilzunehmen;

* bei den Studierenden war zunächst einmal Kennenlernen angesagt. Olena Sinenko sprach über die Bedrohung der Unabhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit in der Ukraine; Katja Grizewa betonte den Zusammenhang von Bildungsanliegen und sozialen Rechten der Studierenden und Laura Six vom TVStud sprach über die Lage und die Selbstorganisierung der studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen in Zusammenarbeit mit Ver.di und GEW;

* in Bezug auf die Schuldenfrage kam es zu einem intensiven Austausch mit deutschen Aktivist:innen über die folgenschweren Konsequenzen der zunehmenden Verschuldung der Ukraine; es wurden Initiativen zur Unterstützung eines Schuldenerlasses besprochen und es konnten Kontakte zu ukrainischen Partnern hergestellt werden; gemeinsam will man über die Auflagenpolitik der EU aufklären.

Beim Abschlusspodium wurden die Möglichkeiten der Kooperation zwischen deutschen und ukrainischen Gewerkschaften und neue Ansätze gewerkschaftlicher und sozialer Organisierung dargestellt. Alle Beteiligten zeigten sich höchst zufrieden mit den Themen und dem Ablauf der Veranstaltung. Die ukrainischen Teilnehmer:innen betonten, wie wichtig es ihnen war, sich abseits vom Kriegsgeschehen über ihre alltäglichen Anliegen mit deutschen Partner:innen austauschen zu können; immer wieder wurde hervorgehoben, wie positiv und wirksam das „voneinander Lernen“ während dieser Tagung doch war, und es wurde der Wunsch geäußert, diesen Austausch fortzusetzen.

Das Ambiente im Gewerkschaftshaus der IG Metall mit großzügigen Räumen, professioneller technischer Ausstattung, Simultanübersetzung und Catering hat viel zu einem reibungslosen Ablauf und einer freundlichen Atmosphäre beigetragen. Ohne diese Unterstützung und ohne die Förderung durch die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ver.di und Erlassjahr hätte die Veranstaltung nicht stattfinden können. Zum Erfolg haben viele beigetragen.

Von: Hermann Nehls

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