Industriepolitik

Jan Otto im Interview: „Wir brauchen ein Schutzschild für die Industrie in Berlin!“

16.09.2024 | Die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie nimmt gerade Fahrt auf. Im Interview erläutert Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin, seine Sicht auf die Industrie in Berlin. Wie steht es um die Industrie in Berlin? Warum wir ein Schutzschild für die Betriebe brauchen und mehr...

Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Berlin - Foto: Christian von Polentz

Die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie nimmt gerade Fahrt auf. Der Verhandlungsführer der Metall-Arbeitgeber Stefan Moschko hat am Mittwoch erklärt, dass die Lohnforderung von sieben Prozent völlig unangebracht sei. Seine Begründung: Alle relevanten Wirtschaftsdaten zeigen nach unten: Produktion, Aufträge, Investitionen.

Steht es so schlecht um die Industrie in Berlin?

Für Berlin sieht es in der Tat besser aus als in vielen anderen Regionen der Bundesrepublik. Das hat damit zu tun, dass die Berliner Industrie sehr bunt ist und wir eine vielfältige Industrielandschaft haben, die allerdings besonders unter dem Fachkräftemangel leidet. Die Forderung von sieben Prozent ist absolut berechtigt und ich hätte es auch verstanden, wenn die Beschäftigten mehr gefordert hätten. Das Ergebnis muss näher an der sieben als an der Null liegen.

Die Entwicklungen bei VW lösen gerade in vielen Kommentaren einen Abgesang auf die Autoindustrie aus. Wie siehst Du das?

Natürlich gibt es in Berlin keinen Volkswagen. Aber klar ist auch, wenn VW sich mit der Kündigung der Tarifverträge zu einem so krassen Schritt hinreißen lässt, müssen wir sehr wachsam sein, was in anderen Bereichen passiert. Wir haben viele Unternehmen, die an die Autoindustrie angekoppelt sind: Service Center, Banken, die Softwareschmieden wie CARIAD in unserer Stadt. Die Beschäftigung ist dort natürlich auch über kurz oder lang in Teilen gefährdet. Das ist auch der Grund, warum wir uns in der IG Metall darauf vorbereiten, in der Tarifrunde und nach der Tarifrunde mit einer Kampagne für die Sicherung der industriellen Substanz in Berlin durchzustarten. Wir wollen ein Schutzschild aufbauen, damit wir mit den Betrieben nicht erst dann handlungsfähig werden, wenn es zu spät ist. Aber jetzt steht erstmal die Tarifrunde an. Den Fachkräftemangel werden wir ohne vernünftige Arbeitsbedingungen nicht in den Griff bekommen. Themen wie Familienfreundlichkeit und Verfügbarkeit der Zeit gehören für mich dazu. 

Als Grund für die Krise werden immer wieder die hohen Löhne in Deutschland genannt. Ist das eine Lösung? Weniger Geld in den Taschen der Beschäftigten und schon gesundet die Industrie?

Nein, absolut nicht. Wenn Arbeitgeber immer nur eine Strategie fahren, um Krisen zu beheben, nämlich Lohnverzicht, dann sind sie nicht unschuldig an den Wahlergebnissen von heute, die wir nicht haben wollen. Die Menschen im Land wollen Sicherheit und Verlässlichkeit. Sie wollen das Gefühl haben, von ihrer Hände Arbeit leben zu können und dass sie nicht nach all den Mega-Krisen Angst haben müssen, dass sie am Ende des Monats kein Geld mehr übrig haben. Wer das nicht versteht, spielt mit der Demokratie.

Wie hat sich die Industrie in den letzten Jahren in Berlin entwickelt? Wo stehen wir heute?

Wir haben mittlerweile mehr als 200.000 Industriearbeitsplätze in Berlin. Wir haben mit der Digitalwirtschaft einen extrem wachsenden Bereich mit rund 145.000 Arbeitsplätzen. Davon sind rund 100.000 Arbeitsplätze dem Organisationsbereich der IG Metall zuzuordnen. Wir haben eine sehr gute Lage in Berlin. Natürlich schwächeln immer mal wieder einzelne Betriebe, aber in der Summe geht es uns besser als je zuvor. Nach vielen schwierigen Jahren sind wir beispielsweise bei Siemens in ruhigerem Fahrwasser. Die Berliner Industrie wächst. Sie hat allerdings ein Flächenthema. Wir sollten unbedingt im Osten von Berlin mehr Industrie ansiedeln. Der Berliner Industrie geht es gerade wegen ihrer Heterogenität so gut wie nie. Wir sollten wachsam und strategisch die Entwicklung begleiten und nach vorne gehen.

Kannst Du ein paar unserer Berliner Akteure heute nennen?

Wir haben alles außer Stahl! Nur um ein paar zu nennen: Siemens, das BMW Motorradwerk in Spandau, das Mercedes-Benz Werk in Marienfelde, Stadler als Schienen- und Fahrzeugbau und Mobilität wie Siemens Mobility, aber auch ASML – Halbleiter. Bei der Gesundheitswirtschaft beispielsweise Biotronik und Siemens Healthineer. Softwareschmieden der Autobauer wie CARIAD und MBition, Maschinenbauer wie MAN. GE, Procter und Gamble. Natürlich gibt es auch die Service Center, Vertrieb, Mercedes Bank – also beim Auto die Peripherie. Und natürlich das Handwerk! Als Berliner IG Metall vertreten wir rund 450 Betriebe.

Wird die Industrie in Berlin ausreichend gefördert? Was würdest Du als Gewerkschafter der Politik raten?

Der Regierende Bürgermeister hat einen sehr klaren Blick auf die Industrie und tauscht sich mit uns als Gewerkschaft und den Arbeitnehmervertretungen regelmäßig aus. Kai Wegner besucht beispielsweise am 25. September auch wieder eine Betriebsversammlung bei Mercedes Benz. Bei der Berliner Wirtschaftsförderung in ihrer Gesamtheit sehe ich noch Luft nach oben, gerade beim Thema Standort. Berlin besteht aus Ost- und West-Berlin. Bei den Arbeitgeberverbänden UVB und VME habe ich das Gefühl, dass der Blick oft am Alexanderplatz endet, also im alten Westen bleibt. Die Stadt braucht dringend eine Offensive bei der Digitalwirtschaft und Mikroelektronik. Wir haben hier so viel zu bieten und zeigen es viel zu wenig. Ein Digitalgipfel 2025 oder 2026 wäre angesagt.  

Letzte Frage: Wie siehst Du die Arbeit der regionalen Transformationsnetzwerke ReTraNetz?

Es war ein sehr klug, mit den regionalen Transformationsnetzwerken das Thema Transformation direkt in die Betriebe zu bringen und voranzutreiben. Transformation ist eine Kernaufgabe der Betriebe und hier leistet Robert Drewnicki mit seinem Team gute Arbeit. Wir sind dazu im regelmäßigen Austausch.

Von: Andrea Weingart

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